Der Heilige
Es war einmal ein seltsamer Heiliger. Braune Kutte? Grauer Bart? Nackte Füße? Durchaus nicht. Vielmehr sah er aus wie du und ich, und niemand, der ihn auf der Straße überhaupt wahrnahm, konnte auf den Gedanken kommen, dass etwas Besonderes an ihm sei.
Und doch. Einmal im Jahr, immer im Spätherbst um die Zeit des Vollmonds, nahm er sich eine Woche Urlaub, packte einen kleinen Koffer und fuhr in eine entlegene Ecke des Landes, die eher wenig besucht und bewohnt war und sich eigentlich nur durch einen Berg auszeichnete, der sich nahezu unmittelbar aus der Ebene groß und kegelförmig über den Horizont wölbte. Dort in der Nähe stieg er in einem bescheidenen Gasthof ab und verbrachte den ersten Abend im Gespräch mit der alten Wirtin, die sich freute, ihn wiederzusehen. Die beiden folgenden Tage blieb er im Zimmer, aß auch dort. Im übrigen war nichts weiter auffällig, als dass er sich offenbar nicht mehr rasierte. Am vierten Tag stand er in der Frühe auf, zog eine Art braune Kutte an, nahm einen der Stühle aus der Wirtsstube, schnallte ihn sich auf den Rücken und machte sich dann – barfuß – auf den Weg zum Berg, den er im Lauf des Tages erstieg.
Abends auf dem felsigen Gipfel angekommen, stellte er seinen Stuhl auf den höchsten Punkt und setzte sich. So verbrachte er die Nacht, sah einen Mond, der fast voll war, sah die Wolken in seinem Licht und sah den Morgen heraufziehen. Kaum dass die Sonne über dem Horizont war, erhob er sich, streckte sich ein wenig und stieg dann auf den Stuhl – um dem Himmel näher zu sein, wie er sagte.
So verbrachte er den Tag, sah die Sonne, die Wolken in ihrem Licht, sah die Vögel unter sich fliegen und sah, wie es Abend wurde. Er stieg vom Stuhl, setzte sich, sah den nun vollen Mond über den Himmel wandern und sprach ein wenig vor sich hin. Am nächsten Tag, es war der fünfte, schnallte er neuerlich seinen Stuhl auf den Rücken und machte sich an den Abstieg. Im Gasthof angekommen, legte er sich sofort schlafen.
Am nächsten Morgen packte er die Kutte in den Koffer, rasierte sich, frühstückte, verabschiedete sich herzlich von der Wirtin und reiste heim.
Jochen Jung, „Ein dunkelblauer Schuhkarton: hundert Märchen und mehr“, HAYMON
Und doch. Einmal im Jahr, immer im Spätherbst um die Zeit des Vollmonds, nahm er sich eine Woche Urlaub, packte einen kleinen Koffer und fuhr in eine entlegene Ecke des Landes, die eher wenig besucht und bewohnt war und sich eigentlich nur durch einen Berg auszeichnete, der sich nahezu unmittelbar aus der Ebene groß und kegelförmig über den Horizont wölbte. Dort in der Nähe stieg er in einem bescheidenen Gasthof ab und verbrachte den ersten Abend im Gespräch mit der alten Wirtin, die sich freute, ihn wiederzusehen. Die beiden folgenden Tage blieb er im Zimmer, aß auch dort. Im übrigen war nichts weiter auffällig, als dass er sich offenbar nicht mehr rasierte. Am vierten Tag stand er in der Frühe auf, zog eine Art braune Kutte an, nahm einen der Stühle aus der Wirtsstube, schnallte ihn sich auf den Rücken und machte sich dann – barfuß – auf den Weg zum Berg, den er im Lauf des Tages erstieg.
Abends auf dem felsigen Gipfel angekommen, stellte er seinen Stuhl auf den höchsten Punkt und setzte sich. So verbrachte er die Nacht, sah einen Mond, der fast voll war, sah die Wolken in seinem Licht und sah den Morgen heraufziehen. Kaum dass die Sonne über dem Horizont war, erhob er sich, streckte sich ein wenig und stieg dann auf den Stuhl – um dem Himmel näher zu sein, wie er sagte.
So verbrachte er den Tag, sah die Sonne, die Wolken in ihrem Licht, sah die Vögel unter sich fliegen und sah, wie es Abend wurde. Er stieg vom Stuhl, setzte sich, sah den nun vollen Mond über den Himmel wandern und sprach ein wenig vor sich hin. Am nächsten Tag, es war der fünfte, schnallte er neuerlich seinen Stuhl auf den Rücken und machte sich an den Abstieg. Im Gasthof angekommen, legte er sich sofort schlafen.
Am nächsten Morgen packte er die Kutte in den Koffer, rasierte sich, frühstückte, verabschiedete sich herzlich von der Wirtin und reiste heim.
Jochen Jung, „Ein dunkelblauer Schuhkarton: hundert Märchen und mehr“, HAYMON
Harringer - 5. Nov, 16:14